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Interreligiöse Perspektiven zur Jahreslosung 2023

„Du bist ein Gott, der mich sieht – und der sich sehen lässt“ (Gen. 16,13): Sehen und gesehen werden – nicht ohne die Anderen

Du bist ein Gott, der mich sieht. Genesis 16,13 Jahreslosung 2023. Bild/Text Komposition mit Wüstenlandschaft

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Mit der Jahreslosung 2023 haben wir das ganze Jahr die besondere Gelegenheit, über „Sehen und gesehen werden“ interreligiös und interkulturell ins Gespräch zu kommen. Sehen und gesehen werden gehört zu den zentralen Motiven in den Erzählungen von Sara und Hagar. Gott sieht die Ohnmächtigen, die in Gewaltstrukturen Verstrickten, sieht das Unrecht, die Sehnsüchte und Wünsche. Nur wer angesehen wird, erfährt Würdigung, erlebt, dass er oder sie gemeint, gewürdigt wird – und kann aufatmen.

Ismael – hebräisch: „Gott hört“ – wird der Sohn der Hagar genannt. „Ha-ger“, hebräisch: „die Fremde“; die, die von Sara ausgestoßen wird in die Wüste. Sara, hebräisch: „die Gebieterin“, „Fürstin“, leidet selbst unter den patriarchalen Strukturen. Sie erlebt Abwertung, weil sie keine Kinder bekommen kann, und übt selbst Gewalt aus. Der Machtkampf beider Frauen nimmt seinen Lauf, als Sara ihre Sklavin Hagar zur Leihmutter nimmt und Hagar durch die Schwangerschaft selbst an Macht gewinnt. Hagar wird so Abrahams Frau und gewinnt eine neue gesellschaftliche Stellung.

In die Wüste, in die „shema´mach“ (hebräisch: „die Schauderhafte“) geschickt. An einen unwirklichen, lebensfeindlichen Ort, einem Ort ohne Hoffnung, ganz aus dem Blick geraten. Aber für Gott ist Hagar keine Fremde, sie wird nicht übersehen, sondern wird gerettet. „Du bist ein Gott, der nach mir schaut, „ein Gott, der mich sieht“, „Du bist ein Gott des Hinschauens“, hebräisch: „El Roi“, arabisch: „antalla´hu allasi jarani“, so steht es auf der wunderbaren Kalligraphie des pakistanischen Künstlers Shahid Alam (siehe Bild).

Religionsgeschichtlich einmalig

Von den Ursprüngen des jüdischen Volkes wird ab dem 12. Kapitel des 1. Buches der Tora erzählt. Diese religiöse Grundakte atmet eine Weite, die religionsgeschichtlich einmalig ist. In ihr werden die anderen Völker mit hinein- und aufgenommen. Andere Gründungslegenden erzählen von Anfang an nur die eigene Geschichte in Abgrenzung zu allen anderen. Das ist zu Beginn der Tora anders: Sie beginnt mit der Weltschöpfung, mit der Erschaffung des einen Menschen (hebräisch: adam“), auf den alle Völker der Welt bezogen sind: Keiner kann sich über den anderen erheben,weil alle von dem einen Menschen abstammen.

Der jüdische Neujahrstag (hebräisch: „Rosh Hashana“, „Haupt des Jahres“) ist im Festzyklus der besondere Feiertag, der diesen universellen Charakter zum Ausdruck bringt. Er ist nicht von einem besonderen Ereignis der Geschichte des Volkes Israel bestimmt, sondern es geht um die Geburt der Welt, die Neu-Schöpfung des Kosmos durch den gerechten und barmherzigen Schöpfer. Gott hat die ganze (!) Welt nach seinem Bilde geschaffen und so auch alle Menschen auf dieser Welt, nicht nur ein bestimmtes Volk. So ist die Geschichte Hagars und Ismaels wunderbar hineinkomponiert in die Gründungsgeschichte des Volkes Israels mit Sara und Isaak.

Neben der Stammmutter Sara und dem Stammvater Abraham ist es Hagar, die als einzige wie Abraham eine Nachkommens-Verheißung erhält. Aus Ismael soll ein großes Volk werden (Gen. 25,12-18). Wie die 12 Stämme Israel sind Ismael 12 Söhne (= Stämme) verheißen. Und Hagar steht als Stammmutter für die Ismaeliten, von denen sich die arabischen Stämme ableiten. So konnten später die Muslim*innen an die biblische Tradition anknüpfen und sich auf Abraham als Stammvater beziehen.

Der jüdische Gelehrte Benno Jakobs erkennt in seinem großartigen Genesis-Kommentar, dass Ismael selbst ein Kind der Verheißung ist wie Isaak. Mehr noch: Ismael erhält zuerst die Verheißung (Gen. 17; Sure 5:7), danach dann auch Isaak (Gen. 21,4). Beide werden zum Segen für alle Völker in den Bund Gottes mit hineingenommen.

Ismael ist von daher auch nicht „der wilde Mensch“, wie die Lutherübersetzung Gen. 16,12 wiedergibt und so durch die Geschichte eine islamfeindliche Auslegung durchgesetzt hat, nach der Ismael ein aggressiver, gewaltbereiter Mensch sei – und, so ein Kommentar zur Stelle, „als Stammvater der Araber sehe man ja, wohin das mit den Arabern führe …“. Der Theologe Bertold Klappert hält diese gängige Übersetzung für falsch: „Kennt doch das Alte Testament konkret keine kriegerischen Handlungen Ismaels gegenüber Isaak-Israel, sondern erzählt im Gegenteil von der Rettung Josephs durch das Händlervolk der vorbeiziehenden und den Bruder nach Ägypten mitnehmenden und so rettenden Ismaeliten und ihrer Karawane (Gen. 37,25-27). Deshalb übersetze ich wie folgt: ‚Ismael ist ein Mensch wie ein (freier, nicht domestizierter) Wildesel. Er handelt mit allem und alle treiben Handel mit ihm. Und allen seinen Brüdern (!) wohnt er in Sichtweise (in Nachbarschaft) gegenüber“. So wird die biblisch grundgelegte Augenhöhe der beiden Brüder Isaak und Ismael und ihre Weggemeinschaft zum Ausdruck gebracht. Sie findet ihr Ziel darin, dass beide Brüder ihren Vater Abraham gemeinsam und friedlich begraben (Gen. 25,9).

Der Gott Saras, Abrahams und Issaks ist kein anderer als der Gott Hagars, Abrahams und Ismaels. Dabei erfahren Hagar und Ismael Gott nicht einfach identisch mit Israels Gottesoffenbarung, sondern je noch einmal in ihrer eigenen Weise, aber „in Nachbarschaft und in einer unkündbaren Beziehung zu dem Gott Isaaks und Jakobs und damit zum Volk Israel“ (Bertold Klappert). Hagar empfängt keine andere Offenbarung eines anderen Gottes, denn: „es ist kein anderer Gott“. Hagar, von Sara vertrieben, geflohen in die Wüste, kehrt. wie es ihr der Engel aufgetragen hat. in das Haus Abrahams zurück. Denn nur so kann sich die von Gott gegebene Segensgeschichte mit allen Völkern erfüllen (Gen. 12,3). Diese gemeinsame Gottesoffenbarung kann uns vor allzu schneller Abgrenzung gegenüber dem Islam bewahren und erkennen lassen, wie essentiell nicht nur der jüdisch-christliche, sondern auch der christlich-islamische Dialog für das christliche Selbstverständnis ist.

Jüdische Perspektiven

Die Erfahrung des Fremd-Seins gehört zur Erfahrung der jüdischen Existenz, „anders“ zu sein, ausgegrenzt und verfolgt zu werden. Darauf baut die jüdische Ethik auf. Eines der zentralsten Gebote der Tora lautet, den Fremden nicht zu unterdrücken. Gott selbst sagt zu den Israeliten: „Achte den Fremden, denn Fremde seid ihr gewesen in Ägypten“.  Ihr wart in Ägypten, in „mi-zar-aim“: „zar“ (hebräisch: „Enge“), „zarot“ (hebräisch: „Ärger“: da kommt unser Wort „zorres“ her) – Ägypten, ein Ort doppelten Elends, den sollt ihr nicht vergessen, denn er hat euer Leben eng gemacht, euch den Atmen abgeschnürt, euch die Würde genommen – ohne Ansehen. Und Mose, der ein Fremder am ägyptischen Hof geblieben ist, nennt seinen Sohn „Gershom“ („ein Fremder bin ich dort“).

In der jüdischen Auslegung findet sich das Bild der betenden Hagar in der Wüste. In der verzweifelten Situation ohne Wasser schreit sie zu Gott. Und Gott erweist sich als der barmherzige Gott, weil er Hagar erhört. Daher bekommt auch ihr Sohn den Namen Ismael. Eine ermutigende Erzählung über die Erfahrung der Wüstenzeit, die zugleich von der Hoffnung erzählt, bei Gott angesehen und geliebt zu bleiben: die Erfahrung, durch den Glauben an Gott durchgetragen zu werden, nicht verloren zu gehen inmitten all der schwierigen und scheinbar hoffnungslosen Umstände. Hagar gilt in der rabbinischen Tradition als gottesfürchtige Frau, die zum Symbol der Rettung durch Gott wird. Gott richtet auf – denn er sieht.

Hagar bekennt sich zu Gott und gibt ihm in der Tora - als erste Person in der Bibel – den ersten Namen: „Du bist „El-Roi“, ein Gott, der mich sieht, ein Gott des Anschauens“. Der Buchstabe „He“, der in jüdischer Tradition oft für Gott verwendet wird, ist Bestandteil ihres Namens: „he-gar“ („Gott wohnt“). In dem Moment, wo es uns gelingt, Hagars Namen nicht als „hagar“ („die Fremde“), sondern als „he-gar“ („Gott wohnt“) zu verstehen, kann Gott im Angesicht aller „Fremden“ gefunden werden, leuchtet in jedem anderen Menschen, gleich welcher Religion, Kultur, Geschlecht Gottes Antlitz.

Islamische Perspektiven

Hajar (Hagar auf Arabisch) ist nach der islamischen Überlieferung die Stammmutter der arabischen Stämme und die Vorfahrin Muhammads. Eine bedeutende Rolle spielt Hajar im Rahmen der Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, die jede*r Muslim*in einmal im Leben unternehmen sollte – wenn er oder sie dazu körperlich und finanziell in der Lage ist. Die Pilger*innen eilen nach dem Vorbild Hagars zwischen zwei Felshügeln siebenmal hin und her. Es erinnert sie daran, dass Hajar siebenmal zwischen den Hügeln As-Safâ und Al-Marwa hin- und herlief, um Wasser zu finden, bis der Engel Gottes sie rief und ihr die Quelle Zamzam zeigte. Hajar suchte nach neuen Vorräten mit der Gewissheit, dass Gott sie nicht vergessen habe und seine Barmherzigkeit nicht von ihr weichen würde. Dieses Laufen ist integraler Bestandteil der Hadsch und symbolisiert ein rituelles Gedenken an Hajars unerschütterliche Gewissheit und ihr vollkommenes Gottvertrauen (Sure 14:37).

Auch die islamische Tradition verweist auf das unerschütterliche Vertrauen in Gottes Barmherzigkeit. Für Hajar wird die Wüste, dieses unwirkliche Land, durch die Quelle Zamzam zu einem bewohnbaren Ort. Diesen nennen die Muslim*innen Mekka. Nicht zufällig begräbt daher Ismael seine Mutter nach ihrem Tod genau dort, wo sie gelebt hatten; dort, wo Abraham und Ismael später die Kaaba errichteten. Die kurze halbrunde Mauer, die ganz nahe bei der Kaaba steht, gilt als ihr Grabmal. Durch das Vertrauen zu Gott hat Hajar Barmherzigkeit erfahren und mit ihr alle, die auf die Pilgerfahrt gehen. So nimmt Hajar im religiösen Leben der Muslim*innen bis heute eine besondere Stellung ein.

Spirituelle Weggemeinschaft

Die Erzählungen von Hagar/ Hajar und Sara sind für mich Schlüsselgeschichten im Dialog zwischen Judentum, Christentum und Islam. Ismael und Isaak sind zwei Söhne von Gottes universeller Verheißung, dass sich zuletzt das Leben und die Barmherzigkeit Gottes durchsetzt. Es liegt für mich eine große Chance darin, wenn wir anfangen, die Geschichten der gemeinsamen Glaubenstraditionen auch mit den Augen der jeweils anderen lesen, entdecken und uns darüber austauschen. Tatsächlich haben sich die Wege Hagars und Saras getrennt. Es wird in der Tora nicht erzählt, dass sie einander wiedersehen und miteinander reden. Diesen blinden Fleck verstehe ich als einen Aufruf an uns. Unterschiede trennen, sie sollten aber nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern als Bereicherung. Der Austausch über unterschiedliche Glaubenstraditionen eröffnet einen Reichtum, an dem wir wechselseitig teilhaben können – und dabei Verbindendes entdecken.

Gemeinsam immer wieder aufzubrechen, gerade in unsicheren Zeiten, in Wüstenzeiten, um gemeinsam Orientierung zu finden: Einander von seinem Glauben erzählen, sich mitnehmen lassen in den reichen spirituellen Schatz der anderen, die anders glauben und doch so Vieles mit mir gemeinsam haben. Und sich dabei angesehen zu wissen von dem einen Gott, verbunden mit einer Haltung von Wertschätzung; Respekt und Zuversicht: Wenn ich mich auf den Weg mache zu Gott, möge mich die liebende Aufmerksamkeit Gottes berühren wie Hagar in der Wüste. Und im Dialog mit jüdischen und muslimischen Perspektiven erlebe ich: Glaube ist für mich kein Besitz, keine vollständige Antwort, sondern ein Suchen. Mit Gott können und werden sich unsere Sicht wie unser Handeln noch einmal ändern. Mit Gott werden sich Geschicke auch wieder wandeln. Aus Katastrophen kann Neues erwachsen für eine respektvollere gemeinsame Zukunft. Die Hoffnung, die mich dabei trägt, ist das Vertrauen, auch in den Irrungen und Wirrungen des Lebens von Gott getragen, gehalten und angesehen zu sein.

Gebet

Gott,
Du siehst uns an.
Du siehst unser Herz und unsere Seele.
Dir können wir anvertrauen, was uns bewegt.
Du hörst unsere Worte und Gedanken.,
unsere Ängste und Sorgen.
Du bist bei uns.
Wenn wir Hoffnung verlieren
und es dunkel und schwer wird;
schenkst Du uns Flügel, die uns tragen.
Mit Dir können wir Herausforderungen meistern.
Du begleitest uns auf unseren Wegen.
Du bist das Licht am Horizont
die Quelle, die uns Leben schenkt.
Du siehst uns an.
Du empfängst uns mit offenen Armen.
Bei Dir sind wir gut angesehen
und spüren dabei Deine Liebe.
Danke, dass Du da bist.
Amen.

(aus: Wegbegleiter Ökumenischer Jugendkreuzweg 2023)

Dr Andreas Goetze

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