„Ich überlege mir immer genau, wann ich die Stimme erhebe“, sagt der Leitende Bischof Jerzy Samiec, der seit 2010 Oberhaupt der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen (EAKP) ist.
Im folgenden Interview in der letzten Adventswoche dieses Jahres spricht er über seine Hoffnungen für die EAKP als Mitgliedskirche des Lutherischen Weltbundes (LWB) und gastgebende Kirche der Dreizehnten LWB-Vollversammlung. Er skizziert die Entwicklungen, die zu der jüngsten Entscheidung der Kirche für die Frauenordination geführt haben, und spricht über den Stellenwert der ökumenischen Beziehungen in seinem Heimatland.
Wofür beten Sie in der Adventszeit 2021?
Mein Gebet für die Adventszeit lautet – wie eigentlich immer – „Ebnet den Weg des Herrn, denn der König der Ehre will einziehen“. Wenn man sich in der Welt umschaut, wird einem bewusst, dass bestimmte Dämonen der Vergangenheit, die vor rund 100 Jahren zu zwei Weltkriegen geführt haben, wieder auftauchen. Es gibt wieder immer mehr Menschen, die die Konfrontation suchen, die andere ausgrenzen wollen. Ich bete also, dass wir uns unserer Sünden bewusst werden – der Sünde, hochmütig zu sein, und nicht voller Liebe und Barmherzigkeit. Wir müssen Buße tun für unseren Hochmut.
Sie haben wiederholt klar Stellung bezogen im öffentlichen Raum. Welche Entwicklungen in der polnischen Gesellschaft machen Ihnen am meisten Sorgen?
Ich überlege mir immer genau, wann ich die Stimme erhebe und wann ich schweigen sollte. Wann sollte ein Pastor oder eine Pfarrerin mit einer „prophetischen“ Stimme sprechen und auf die Dinge hinweisen und mahnen, und wann interferieren seine oder ihre Äußerungen mit der Politik? Wann kann uns ein Vorwurf gemacht werden, wenn wir schweigen, und wann kann es uns zum Vorwurf gemacht werden, wenn wir nicht auf etwas reagieren? Das sind schwierige Entscheidungen. Wenn ich beobachte, dass die Freiheiten von Menschen eingeschränkt werden, wenn ich Korruption in den Organen der Zivilgesellschaft und den staatlichen Institutionen sehe, die sich gegenseitig eigentlich kontrollieren sollen, versuche ich, mich für die Schwachen stark zu machen.
Können Sie uns etwas über die Ökumene in Polen erzählen?
Die EAKP ist eine treibende Kraft für die Ökumene in Polen. Mehr als 90 Prozent der Menschen in Polen gehören der Römisch-katholischen Kirche an. In der Ökumene geht es also hauptsächlich um die Beziehungen zur Römisch-katholischen Kirche und um gemeinsame Interessen mit anderen kleineren Konfessionen. Im Moment scheinen starke Fliehkräfte zu wirken, die die ökumenischen Bemühungen untergraben. Ich hoffe, dass das nur vorübergehend so ist und dass die gemeinsame Zielsetzung, Wege hin zu größerer Einheit zu finden, bald wieder an Bedeutung gewinnen wird.
2023 findet in Krakau die Dreizehnte LWB-Vollversammlung statt. Was bedeutet das für die LWB-Region Mittel- und Osteuropa im Allgemeinen und für Ihr Heimatland und Ihre Kirche im Besonderen?
Die LWB-Vollversammlung ist ein wichtiges Treffen von lutherischen Kirchen aus aller Welt. Wir freuen uns schon sehr darauf, die vielen Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen aus aller Welt bei uns begrüßen und ihre Gastgeber sein zu dürfen. Ich hoffe, dass die Vollversammlung Beschlüsse fassen wird, die die Strategien und die Ausrichtung des LWB für die folgenden sechs Jahre auf konstruktive Art und Weise prägen werden. Ich hoffe auch, dass wir unser Land gut präsentieren und unsere Kirchen hier in Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei angemessen vorstellen können. Zwar sind dies typische Diasporakirchen, aber sie haben maßgeblichen Einfluss auf die Menschen, unter denen die wirken.
Im Oktober hat die Synode der EAKP für die Frauenordination gestimmt. Würde Sie uns in ein paar Sätzen etwas zu dem Prozess erzählen, an dessen Ende diese Entscheidung stand?
In Polen wurde schon seit vielen Jahren über die Ordination von Frauen diskutiert. Meiner Ansicht nach wurden die wichtigsten Entscheidungen diesbezüglich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre getroffen.
Zunächst wurde eine besondere Form der Ordination geschaffen, die so genannte Einführung in das Amt der kirchlichen Lehre. Dadurch konnte die Kirche Frauen mit einer theologischen Ausbildung in den Dienst mit bestimmten Befugnissen schicken und diese durften dann zum Beispiel Andachten leiten und Handauflegen praktizieren.
Der zweite wichtige Schritt wurde dann Ende der 1990er Jahre unternommen. Damals beschloss die Kirche, dass das Amt des Dienstes drei unterschiedliche Formen haben könne, die jeweils eine eigene Art der Ordination verlangten: Diakon oder Diakonin, Pastor und Bischof. Katechetinnen und Katecheten im Dienst der Kirchen sollten ex officio Diakoninnen und Diakone sein.
Nachdem viele Jahre immer wieder darüber diskutiert worden war, ist der synodale Ausschuss für Theologie schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es keine theologischen Hindernisse mehr für die Ordination von Frauen in das Pastorenamt gebe. Im nächsten Schritt wurde den Diakoninnen und Diakonen dann erlaubt, auch das Abendmahl zu feiern. Und schließlich hat die Synode nun entschieden, dass Frauen auch in das Amt der Pfarrerin und folglich in das Bischofsamt ordiniert werden können.
Welche Bedeutung hat diese Entscheidung für Ihre Kirche?
Die Entscheidung fußte auf verschiedenen bereits erfolgten Veränderungen in unserer Kirche und die zunehmend wichtige Rolle von Diakoninnen und Diakonen in der Gemeindearbeit. In vielen Gemeinden wurde und wird es sehr geschätzt, dass Frauen predigen und das Evangelium lehren. Ich hoffe, dass diese jüngste Entscheidung jetzt vielen Frauen die Türen zu einem Theologiestudium öffnet. Eine ganze Reihe von polnischen Theologinnen arbeitet derzeit in Kirchen im Ausland, insbesondere in England und in Deutschland.
Welche Bedeutung hatte der kürzlich erfolgte Besuch der LWB-Generalsekretärin, Pfarrerin Anne Burghardt, für Ihre Kirche?
Er war wichtig für uns, insbesondere vor der Dreizehnten LWB-Vollversammlung, die 2023 in Krakau stattfinden wird. Die Tatsache, dass die Generalsekretärin nach Polen kam, um sich Warschau und Krakau anzusehen und Orte zu besuchen, an denen diese Veranstaltung stattfinden wird, ist sehr wichtig. Wir konnten auch über die Zusammenarbeit und die Herausforderungen sprechen, die sich aus der Organisation einer so großen Veranstaltung ergeben. Der Besuch fand in einer sehr guten Atmosphäre statt. Und nicht zuletzt konnten wir dem Generalsekretär die vielfältige Arbeit der EAKP vorstellen.
Was bedeutet es für Ihre Kirche, Ihre Arbeit und Sie persönlich, Teil der weltweiten Gemeinschaft von Kirchen im LWB zu sein?
Teil einer großen Gemeinschaft zu sein ist für eine kleine Kirche sehr wichtig. Gute Beispiele sind etwa der Dialog zwischen dem LWB und der Römisch-katholischen Kirche und das daraus entstandene Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ sowie andere Dokumente über die Kirche im öffentlichen Raum oder das Verständnis von Amt, Konfirmation usw. Für uns ist es wichtig, in diesen Bereichen Unterstützung zu haben. Wir bemühen uns auch, bilaterale Beziehungen mit vielen Kirchen zu pflegen. Wir können viel von ihnen lernen, aber hören auch, dass andere etwas von uns lernen, wenn sie uns besuchen.
Von LWB/A. Weyermüller. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.