Der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung hat die zentrale Bedeutung der Seelsorge in der christlichen und muslimischen Glaubenspraxis herausgestellt. Zum Auftakt eines interreligiösen Fachtags in der Evangelischen Akademie Frankfurt erklärte er am Mittwoch, dass die christliche Botschaft letztendlich darauf ziele, „Menschen im Leben zu stärken, zu trösten und zu orientieren.“ Deshalb gelte die Seelsorge zu Recht als „Muttersprache der Kirche“. Auch wenn es den Begriff der Seelsorge im Islam nicht direkt gebe, gehöre es ebenfalls zu den muslimischen Grundfesten, jedem, der sich in Not befinde, unabhängig von den jeweiligen Glaubensüberzeugungen „mit Zuwendung und Barmherzigkeit“ zu begegnen. Umso wichtiger bleibe der kultursensible Einsatz der Seelsorge in einer zunehmend multireligiösen Gesellschaft.
Religiöse Aspekte bei der Verarbeitung von Katastrophen
Beate Hofmann, Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, erinnerte bei der Tagung an die herausragende Rolle der Notfallseelsorge bei den rassistischen Anschlägen von Hanau im Jahr 2020. So habe dort die Konfession oder Religionszugehörigkeit im Schockmoment keine Rolle gespielt. Erst später, „wenn es um die Verarbeitung des Erlebten geht, spielt die eigene religiöse Tradition eine größere Rolle.“ Das Beispiel der Notfallseelsorge zeige: „Es ist gut, wenn Seelsorge interreligiös agieren kann und wenn die Seelsorgenden wissen, wann und inwiefern die eigene Religiosität eine Rolle spielt. Es wird daher immer wichtiger, kultursensibel und interreligiös kompetent zu sein.“ Zudem habe die Begegnung über Religionen hinweg bei dem Fachtag „in dieser krisenhaften Zeit eine wichtige Funktion“.
Bedürfnis nach muslimischer Seelsorge wächst
Nach Worten der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Gülbahar Erdem wird die muslimische Seelsorge immer wichtiger. Im Jahr 2030 würden 2,8 Millionen Migranten 60 Jahre und älter sein, sagte die Initiatorin des Projekts "Muslimische Seelsorge in Wiesbaden" (MUSE) während der Fachtagung. Diese Bevölkerungsgruppe, angefangen mit der Generation der "Gastarbeiter", sei jahrzehntelang von der Gesundheitsfürsorge und der psychosozialen Versorgung ausgeschlossen gewesen. Gleichzeitig gebe es einen Mangel an islamischen Fürsorgeangeboten.
In islamisch geprägten Ländern gebe es keine ausgeprägten Seelsorgestrukturen, erklärte Erdem. Der Islam kenne keine kirchenähnliche Organisation, und Seelsorge werde als individuelle Aufgabe eines Gläubigen und der Familie verstanden. Aber auch unter Migranten in Deutschland wandele sich die Familie, die Großfamilie werde durch die Kernfamilie abgelöst. Daraus erwachse ein stärkeres Bedürfnis nach einer institutionalisierten muslimischen Seelsorge.
Ausbildungsstätten werden gegründet
Seit 2007 gebe es lokale muslimische Seelsorge-Initiativen in Deutschland wie den Verein MUSE in Wiesbaden, führte Erdem aus. Aber es gebe noch keine deutschlandweite Vernetzung. Muslime gründeten Ausbildungsstätten für Seelsorge, aber es gebe keine standardisierte Ausbildung wie auf christlicher Seite die Klinische Seelsorge-Ausbildung (KSA). Die Universität Tübingen habe einen ersten Masterstudiengang Islamische Seelsorge gestartet, auch das im vergangenen Jahr in Osnabrück gegründete Islamkolleg werde sich darum kümmern.
Kultursensibilität in Notfall- Krankenhausseelsorge
Die 4. Interreligiöse Fachtagung mit 40 Beteiligten stand unter dem Titel „Seelsorge in islamischer und christlicher Perspektive – eine interreligiöse Betrachtung“. Durch die zunehmende Pluralisierung in der deutschen Gesellschaft ist ein kultursensibler Umgang beispielsweise in Krankenhäusern, bei der Notfallseelsorge und in weiteren Handlungsfeldern zu einer neuen Herausforderung geworden. So treffen zum Beispiel evangelische Seelsorgende vermehrt auf muslimische Hilfesuchende. Vor diesem Hintergrund waren zuletzt auch ehrenamtliche Initiativen muslimischer Seelsorge entstanden. Die Fachtagung war eine Kooperation zwischen dem evangelischen Zentrum Oekumene (ZOE) in Frankfurt, der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) in Frankfurt sowie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Sie wurde von Prof. Dr. Bekim Agai (AIWG), Professorin Dr. Naime Çakir-Mattner (JLU) und Pfarrer Dr. Andreas Herrmann (ZOE) organisiert.
via EPD